Aufruhr um ein Buch

Das London der 1960er-Jahre von Gian Butturini

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Dieses Buch wurde erstmals 1969 in kleiner Auflage im Eigenverlag des Fotografen in Italien veröffentlicht. 2014 hat es Martin Parr wiederentdeckt, 2017 mit einem Vorwort versehen und den veränderten Neudruck angestoßen. Das ist ihm schlecht bekommen. Heftige Rassismus-Vorwürfe führten dazu, dass Parr seinen Vorsitz im Photofestival Bristol aufgab und ihn weitere Unbill ereilte. Anlass für die Vorwürfe ist eine Doppelseite im Buch. Dort ist links eine schwarze Fahrkartenkontrolleurin der Londoner U-Bahn zu sehen und rechts ein Gorilla hinter Gittern. Mir wäre die Brisanz dieser Gegenüberstellung womöglich entgangen, wäre nicht Gian Butturini selbst in seinem knappen Vorwort explizit auf diese beiden Bilder eingegangen. Darin bekundete er deutlich seine Sympathie für die schwarzen Bürger Londons. An dieser Stelle wolle er auf die Missachtung der schwarzen Arbeiterin hinweisen, der man weniger Würde zubillige als gar einem Gorilla. Das erscheint uns heute als eine fragwürdige Bild-Argumentation. So wie wir zusammenzucken, wenn wir in einem alten Text das Wort „Neger“ lesen, hätte Parr bei dieser Doppelseite aufschrecken und eine Lösung suchen sollen.

Die Auseinandersetzungen um das Buch haben ein Ausmaß angenommen, das hier nicht referierbar ist. Bei Interesse verweise ich auf die No. 35, 2021 des PhotoResearcher mit dem Beitrag von Moritz Neumüller. Der Artikel ist in voller Länge auf Academia.eu abrufbar. Der Neudruck wurde von 34 x 27,5 cm auf 31 x 25,5 cm verkleinert und hinsichtlich der Proportionen der Bildseiten leicht verändert, sodass die Bildausschnitte nicht exakt dem Original entsprechen.

London: links das Original von 1969, rechts die Wiederveröffentlichung von 2017

London: links das Original von 1969, rechts die Wiederveröffentlichung von 2017

London: oben das Original von 1969, unten die Wiederveröffentlichung von 2017

London: oben das Original von 1969, unten die Wiederveröffentlichung von 2017

Gian Butturini (1935-2006) war ein Designer, der in den späten 1960ern derart vom brodelnden London gepackt wurde, dass er zur Kamera griff und in einen Bildrausch geriet. Er fotografierte kreuz und quer vor allem die Menschen der Metropole. Tourismus-Orte ließ er aus. Eine Dokumentation hatte er nicht im Sinn, wie er bekundete. Es ist Straßenfotografie in Reinkultur. Gegen Butturini erscheint der Stil von William Klein geradezu bedächtig. Die Missachtung von Bildschärfe ist der von Sergio Larrain ähnlich, nur dass dieser damit wenige Jahre zuvor ein fast romantisches London entwarf.

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Butturini sah ein wildes London, weniger „swinging“ als gezeichnet von beunruhigenden Kontrasten und ungerechten Lebensverhältnissen. Carnaby Street erkannte er als Amüsiermeile von fadenscheinigem Geschmack. Im Stadtbild fielen ihm nicht allein die modebewussten jungen Frauen auf, sondern auch drogenabhängige Jugendliche. Wir sehen Protestierende, Gelangweilte, Musizierende, Liebende. Schwarz-weiss in jeder Hinsicht, Graustufen waren des Autors geringste Sorge. Butturini fasste London als Gesamtereignis auf und nicht als Quelle für Stories oder bemerkenswerte Einzelbilder. Es ergab sich kein filmischer Ablauf, sondern wir folgen atemlos dem flinken, fast hektischen Blick des Fotografen – er lichtete „die Stadt als solche“ ab.

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Der Designer Butturini gestaltete natürlich sein Buch selbst. Er griff dabei zu Maßnahmen, die einem brachial vorkommen: Freistellungen, Risskanten, dicke schwarze Flächen im Bild. Seine Fotografien hat er teils heftig beschnitten. Auch wenn uns dies weniger gefällt, ist zu konstatieren, dass Butturini ein Buchobjekt aus einem Guss gelungen ist. Da das Buch nichts beweisen wolle, zu nichts überreden, möge die Betrachterin „ihrs“ hinzufügen, schreibt Butturini. Ich wünsche mir, dass die genannten Auseinandersetzungen zu Erkenntnissen über den Umgang mit Rassismus oder vermeintlichen Rassismus führen und darüber hinaus dem Buch seine Bedeutung zurück geben.

Die Familie Butturini ist entsetzt, dass der Verstorbene unter Rassismus-Verdacht geraten ist. Das Buch soll gerettet werden: „Save the Book“. Da der Verlag unter den Vorwürfen eingeknickt ist und das Buch nicht weiter vertreibt – das ist Zensur –, ist es derzeit per E-Mail nur hier bestellbar.

Bücher von Gian Butturini

Bücher von Gian Butturini (alle Repros ohne Bildtext aus der Wiederveröffentlichung von HGL;  ergänzende Repros von TW)

Zum Weiterlesen:  Der „Fotoreporter der Gegenkommunikation“. Mit Gian Butturini in London und in der DDR bei Fotokritik.de.

 

  • Titel: London
  • Untertitel: „Edited by Martin Parr“
  • Bildautor: Gian Butturini
  • Textautor: Martin Parr, Luciano Mondini, Gian Butturini, Allen Ginsberg
  • Herausgeber: „Edited by Martin Parr“
  • Gestalter: Gian Butturini
  • Verlag: Damiani Editore
  • Verlagsort: Bologna
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: englisch
  • Format: 31 x 25,5 cm
  • Seitenzahl: 104 (unpaginiert)
  • Bindung: Hardcover, illustrierter Schutzumschlag
  • Preis: 53 Euro
  • ISBN: 978-88-6208-558-8

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